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Meine Großtante - die weise alte Dame

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Meine Großtante hätte aus einem Märchenbuch entspringen können. So unbeschreiblich fabelhaft waren ihre Erscheinung und ihre Persönlichkeit. Sie war von stattlicher Natur, mit einer tiefen, warmen Stimme und schaute mich mit ihren hellblauen Augen immer ganz liebevoll und wissend an, so dass ich gerne in ihnen versunken wäre. Es war etwas ganz Besonderes, was sie umgab: diese reine Energie und bedingungslose Liebe, in die ich komplett eintauchen wollte, um dann wieder geheilt daraus aufzusteigen. Sie war die Frau, die durch ihre bloße Anwesenheit ein unschönes Ereignis, ein Gespräch, einen Konflikt lösen konnte ohne etwas dafür tun zu müssen. In ihrer Nähe wurden die Menschen weich und erfüllt und vieles erschien einfacher und leichter.

 

Sehr oft zog sie sich in ihre kleine Holzhütte im Wald zurück, um ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen. Fernab von allem schnitzte sie mit äußerster Hingabe und Zuwendung kleine Holzfiguren: große, kleine, reale, abstrakte.  Doch am liebsten war ihr das Motiv eines kleinen Kindes, gehalten von seiner tief liebenden Mutter.

Ich besuchte sie oft – einfach nur um bei ihr zu sein und diesem wohlvertrauten Geräusch zu lauschen, das die Hütte erfüllte, wenn sie ihr Messer an das noch unbearbeitete Holz setzte und es langsam mit Sorgfalt nach oben zog. Ich konnte meine Aufregung selten im Zaum halten, denn sie sagte mir vorher nie, was sie gerade schnitzen würde. Oft dauerte es Wochen und Monate, und erst später wurde mir bewusst, dass dieses Warten meine erste Lektion in Sachen Geduld war.

 

Meine Großtante schickte mich oft los, um Holz für sie zu sammeln. Ich konnte mich immer recht schwer entscheiden, denn ich wollte ihr immer das schönste und größte bringen. Eines Tages, sie saß auf der Bank vor dem Haus, beobachtete sie mich über ihren viel zu dicken Brillenrand hinaus und merkte, dass ich wieder zögerte. Vor mir lag ein mittelgroßes Holzstück voller Narben und ohne eindeutige Maserung. Sie rief hinüber: „Was zögerst du denn? Das ist doch genau richtig.“ Ich war jedoch nicht überzeugt und suchte weiter nach dem besten Holzstück, das ich finden konnte. Sehr viel später und voller Stolz auf meinen Fund rannte ich auf sie zu und zeigte ihr den neuen, beinahe perfekten Holzblock. Doch sie lächelte nur, streichelte mir mit ihrer rauen Hand über meine Wange und machte mir eine heiße Schokolade.

 

Viele Monate später besuchte ich sie wieder und sah sie an ihrer Werkbank stehen. Das Zeichen, dass sie wieder einmal eine Figur fertig geschnitzt hatte. Voller Erwartung versuchte ich, einen Blick auf das Werk zu erhaschen, doch sie versperrte mir den Blick und meinte: „Mein Junge, ich habe etwas für dich.“ Ich sprang auf, machte mir den Weg frei und sah plötzlich diese unbeschreibliche, zarte Holzfigur von dem kleinen Kind auf den Armen seiner Mutter. Ich begann zu weinen. Die Schönheit dieser Figur war beinahe zu viel. Die Mutter mit diesem liebevollen, sanften Ausdruck, gerichtet auf ihr Kind, das sie mit ihrer grenzenlosen Liebe und tiefem, unerschütterlichem Vertrauen anstrahlte. Ich sah zu meiner Großtante, dann wieder zur Figur und ich umarmte sie vor lauter Dankbarkeit.

Vollkommen überdreht platzte es aus mir heraus: „Ach Tante, wie gut, dass ich damals noch mal in den Wald zurück bin und dir diesen perfekten Holzblock gebracht habe. Sieh nur, wie schön es geworden ist.“ Sie nahm mich liebevoll in ihre wärmenden Arme und meinte: „Setz dich.“ Und sie zeigte mir den schönen, immer noch unberührten Holzblock von einst und ich fragte sie staunenden Augen: „Aber woraus hast du denn diese Figur denn dann gemacht?“ Und sie sagte: „Ich habe sie nicht gemacht. Sie war die ganze Zeit schon da. Ich habe nur das entfernt, was nicht zu ihr gehörte.“

 

Und so ist es auch mit dir. Dein strahlendes Wesen ist die ganze Zeit da. Du musst nichts dazufügen oder neu erschaffen. Du, dein innerstes Wesen, deine Seele ist nur in diesem gesamten, noch unbehandelten Holzblock verborgen. Voller Holzstaub, unschöner Gedanken, Konditionierungen, Erwartungen und Ego-Geschichten. Und selbst wenn Holzspäne dein wahres Wesen verdeckt haben, so ist es doch die ganze Zeit da. Durch Achtsamkeit und Selbsterkenntnis kannst du langsam mit deiner eigenen Schnitzarbeit beginnen. Versuche dich freizumachen von äußerer, vermeintlicher Schönheit, die letztendlich vergänglich ist, und begegne deinem Inneren, denn das ist das, was bleibt. Es geht nicht darum, eine von dir ersehnte Figur zu modellieren, sondern freizulegen, was bereits in dir steckt und schon immer da ist. Deine reine Seele in all deiner Schönheit.

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